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Entwicklung der Raumausmalung

Auch nach seiner Verlegung in das Verwahrungshaus am 4.8.1951 machte Klingebiel Papierzeichnungen und Klebearbeiten. Bald danach muss er begonnen haben, auch auf den weißen Wänden seiner Zelle zu zeichnen. Solche "Schmierereien" waren ein Verstoß gegen die Anstaltsordnung. Im Mai 1952 hatte er sich nach einer Aktennotiz bereits völlig in seine Malerei vertieft. Im Juli 1952 enstand bereits ein Christuskreuz.

Nach Berichten von Zeitzeugen hatten Pfleger und Ärzte beachtet, dass er sich beim Zeichnen beruhigte und konzentriert wirkte, und so man ließ ihn gewähren. Vom Hofgang brachte er auch kleine Steine, Reste von Grillkohle oder von Schlacke mit und verwandte diese für Strichzeichnungen. Mit Zahnpasta und Erde mischte er braune Töne. Auch reichten ihm Pfleger abgebrannte Streichhölzer für die Details. 1953 ist vermerkt, dass ein Oberpfleger ihn mit Farbstiften und Wasserfarben versorgte.

Es gab eine Tradition, die Malerei der Patienten zu beachten. Der Psychiater Hemmo Müller-Suur, der über den Architekten und Künstler Paul Goesch (1885-1940) publiziert hat, kam zu Visiten in das Verwahrungshaus. In ihm könnte Klingebiel einen verständnisvollen Fürsprecher gewonnen haben, der ihn zum Malen ermutigte. Obwohl  Müller-Suur Klingebiel in seinen Schriften nie erwähnt hat, fanden sich in seinem Nachlass alte Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zelle. Sie befinden sich in der Sammlung Prinzhorn und zeigen frühe Stadien der Ausmalung (Röske, 2013, 2024). Diese zeigen, dass Klingebiel die Aufteilung der Seitenwände bereits früh festgelegt hat. 

Die Fotodokumente erlauben einen Blick in die Vergangenheit. Sie zeigen, dass Klingebiel seine Raumaufteilung und Themen schon früh festgelegt hat: Eine große Radstruktur mit Symbolen beherrschte schon in den Anfangsjahren die linke Wand.

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Bildausschnitt. Historische Sammlung Asklepios Fachklinikum Göttingen.

Bildausschnitte: Land Niedersachsen. Fotoarbeiten Hans Starosta.

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Bildausschnitte: Land Niedersachsen. Fotoarbeiten Hans Starosta.

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Mitte der 1950er Jahre machten Bedienstete erste Farbfotos. Sie zeigen auch Partien, die später durch Sanitäreinbauten zerstört wurden, zum Beispiel zum Beispiel ein Mädchen mit Blumenvase, Hund und Katze, dahinter auf einem runden Wandbild ein junger Jäger. Etliche kleine Zeichnungen und auch ein Frauenportrait als Einzelbild lassen erahnen, dass Klingebiel hier an Personen erinnert, die ihm nah waren.

 

Die Malerei, die er als seine Arbeit begriff und von der er  im September 1953 einmal vier Wochen "Urlaub" nahm, wurde über Jahre unterstützt. Er erhielt Farben aus der Malerei des Krankenhauses. Die Utensilien verwahrte er auf dem Boden oder einem kleinen Tisch.

Auch wird deutlich, dass er die Bilder bereits früh bis in eine Höhe von ca. 2,8 Metern ausgedehnt hat. Er soll zeitweilig ein Bettgestell als Leiter benutzt haben.

 

Er malte zu verschiedenen Tageszeiten, wohl auch nach Einbruch der Dunkelheit. Über der Tür sorgte eine heute noch erhaltene große Glühbirne für etwas Licht.

Enzelne große Partien hat Klingebiel im Laufe der Jahre vollständig neu gestaltet. Das eingangs gezeigte historische Foto (um 1954) zeigt ihn neben dem Fenster, neben ihm gerahmte  Landschaften mit Hirschen. Diese hat er später übermalt: Eine Hirschfamilie tritt aus dem Wald heraus und steht frei im Raum. Darüber schwebt ein großer Tiger mit Krone.

Klingebiels Handschrift wirkt durch die schwarzen Konturen, die er oft flächig mit Farbe füllt, eher zeichnerisch bestimmt. Die Flächen lockert er mit rhythmischen Streifen oder Punkten auf.

 

Seine gegenständlichen Bilder wirken auf den ersten Blick schlicht und volkstümlich, seiner Zeit verbunden. Er portraitiert treffend, auch in seinen kleinen Karikaturen. Er reduziert seinen jeweiligen Gegenstand auf seinen Kern, erfindet aber eigentümliche grafische Stilisierungen.

Diese finden sich in seinen Landschaften wieder, in denen hier und da auch Häuser oder eine Kirche zu sehen sind. Bäume, Wolken, Wasserfälle oder Bäche beschreibt er in ähnlicher flächiger oder streifiger Form.

 

Die Gesichter von Menschen zeichnet er von Anfang an mit auffälligen Augen, ähnlich alten ägyptischen Motiven, schmal und kantig. Schwarze Pupillen erhalten senkrechte Striche als Glanzlichter. Er kontuiert scharfe Gesichtszüge, teilt die Haare in Zonen ein. Dies überträgt er bald auf die Tiere, Hund, Katze, später den Tiger und die Hirsche.

Durch ihre schräg gestellten Augen und ihre Zahnreihen werden die Köpfe der Hirsche menschenähnlich. Die hellen Zeichnungen der Halspartien verfremdet er zu vielgliedrigen, säulenartigen Applikationen. Ausufernd schmückt er ihre Geweihe aus, diese werden den Zweigen der Bäume in seinen Wäldern immer ähnlicher, scheinen mit ihnen zu verwachsen.

Zwei Hirschköpfe mit Geweih setzt Klingebiel einander gegenüber, den einen recht unter das Fenster und den anderen rechts neben die Zellentür, beide auf gleicher Höhe. Er unterlegt sie kreisförmig mit Symbolen, einer ist mit einem Schwert hinterlegt. Die Formen lassen an Schießscheiben, aber auch an Embleme denken.

 

Unter den erhaltenen Einzelbildern finden sich zwei passende Scherenschnitte. 

In der Zelle finden sich bis heute Reste von aufgeklebtem Stanniolpapier, in dem Foto um 1954 auch Zeitungsausschnitte. Einer davon zeigt - lange vor Andy Warhol - Tomatendosen, ein anderer die Evolution vom Affen zum Menschen.

 

Bei einem kleinen Portrait ist der Name von C. Lindbergh, dem Pionier der Luftfahrt auf einem vergilbten Papierausschnitt dokumentiert, der in die Malerei eingeklebt ist.

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Bildausschnitte: Land Niedersachsen. Fotoarbeiten Hans Starosta.

Im Laufe der Zeit füllte Klingebiel alle verbliebene Ecken und Lücken kleinteilig mit Symbolen oder kleinen Zeichnungen aus. So entstanden Abschnitte, in denen sich Figuren zu kleinen Gruppen versammeln, als Patchwork nebeneinander stehen, aber auch dekorative Streifen mit Motiven wie Wappen, Orden oder Figuren in fremder Tracht. Auch die Rahmen an den großen Landschaftsbildern dekorierte er mit kleinen Bildkommentaren.

Gelegentlich zerstörte er Teile der Malerei. Den Pflegern erschien er erregt, sprach mit seinen "Stimmen" oder reagierte, als werde er beeinflusst oder bestrahlt. Einem Pfleger, der ihn darauf ansprach, erwiderte er, er habe ja "keine Ahnung".

 

Geheimnisvoll bleiben kleine Markierungen: Mit drei kleinen roten Punkten belegte er hier und da Personen oder Gegenstände. Der große Tiger hat kleine Antennen. Ob er mit solchen Signaturen auch Eingebungen aus seiner Krankheit beantwortet oder gar symbolisch kontrolliert haben könnte, bleibt offen.

 

Ausdrücklich verband er seine Bildbotschaften  mit umfassenden, uferlos verästelten oder verschlungenen Ideen und gedanklichen  Konstrukten. Zugleich zeugen die Motive von  konkreten Erinnerungen aus seinem Leben.

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