Historischer Kontext
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Wir fassen den geschichtlichen Hintergrund in wenigen Stichworten zusammen und möchten damit zum Weiterlesen einladen.
Zwangssterilisation
Mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 (Reichsgesetzblatt I S. 529) setzten die nationalsozialistischen Machthaber ihre Rassenpolitik in Programme gegen psychisch Kranke um. Vorgebliches Ziel war die Unterdrückung angeblich erblich bedingter psychischer Krankheiten durch Zwangssterilisierungen. Hierzu wurden unter anderen gezählt: "Angeborener Schwachsinn" (= Intelligenz-minderung), Schizophrenie, "zirkuläres Irresein" (= Bipolare affektive Störungen), aber auch schwerer Alkoholismus.
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Das NS-Regime führte Meldepflichten ein, richtete flächendeckend Erbgesundheitsgerichte ein und regelte das Verfahren im Detail. Amtsärzte und Anstaltsleitungen stellten die Anträge. Das Gesetz wurde zu einem Abtreibungsgesetz erweitert. Bis zum Mai 1945 wurden im Deutschen Reich rund 350.000 Menschen Opfer der Zwangssterilisierung. Etwa 5.000 bis 6.000 Frauen und rund 600 Männer verstarben in Folge der Eingriffe.
Das Gesetz wurde 1945 nicht aufgehoben. Es galt nach 1949 in der Bundesrepublik weiter, wurde aber nicht mehr angewandt. 1988 hob der Deutsche Bundestag die Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte nachträglich auf, 2007 ächtete er das Gesetz als nationalsozialistisches Unrecht. Die Arbeitsgemeinschaft Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten leistet Aufklärungsarbeit und tritt für die Opfer ein.
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Nach heutigen medizinischen Kriterien handelt es sich nicht um genetisch verursachte Leiden. Das Programm hinterließ tiefe und dauerhafte Verletzungen bei den Opfern und ihren Familien. Empfindungen von Schande und Minderwertigkeit sind mit den Stigma verbunden, das bis heute unterschwellig tradiert wird und Vorurteile gegen psychisch Kranke und Behinderte nährt.
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In der Wunstorfer Anstalt nahm eine erbbiologische Abteilung unter Leitung des Arztes der Waffen-SS Willi Baumert im Jahr 1935 ihre Arbeit auf und erfasste "Sippentafeln" auf (Wittrock, 2005). Sammelanträge zur "Unfruchtbarmachung" gingen an das Erbgesundheitsgericht in Hannover. Die Zahl der Zwangssterilisierung ist nicht bekannt.
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Die erbbiologische Abteilung in Göttingen profilierte sich ab 1934 überregional durch ausgedehnte Erhebungen, die in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt vorangetrieben wurden. 1934 wurden 144 Eingriffe durchgeführt. Die Zahlen waren danach rückläufig, auch weil die meisten Verfahren nach Kriegsbeginn 1939 eingestellt wurden. Bis 1940 waren 461 Patientinnen und Patienten zwangssterilisiert worden (Kömen, 2007).
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Tötungsprogramme
Zur Vorgeschichte der NS-Mordprogramme gegen psychisch Kranke und Behinderte gehört die Publikation
"Zur Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" (Binding und Hoche, Leipzig 1920).
Die Nationalsozialisten griffen diese fortschrittsgläubigen, zugleich menschenverachtenden Pläne zur "Rassenhygiene" auf.
Schon im August 1939 war ein eigenes Programm zur Tötung behinderter Kinder eingeleitet worden. Über ein Melde- und Erfassungssystem verfügten Gutachter die Einweisung in eine der rund 30 "Kinderfachabteilungen", wo Kleinkinder, später auch Jugendliche systematisch durch Medikamentengaben ermordet wurden. Die Fachliteratur geht von mindestens 5.000 Opfern aus. Der SS-Arzt Willi Baumert leitete neben seiner Tätigkeit in Wunstorf die "Kinderfachabteilung" Lüneburg.
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Im Herbst 1939 wurden im besetzten Westpreußen psychisch Kranke Opfer von Erschießungen. Ende 1939 wurden in Posen mobile Anlagen zur Vergasung mit Kohlenmonoxid getestet und dem SS-Reichsführer Himmler vorgeführt.
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Die Aktion T4, benannt nach der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4, begann ohne jede gesetzliche Grundlage mit einem Schreiben von Adolf Hitler, datiert auf den 1. September 1939, unterzeichnet im Oktober 1939. Mit dem Kriegsbeginn ermächtigte Hitler den Reichsleiter Bouhler und den Arzt Brandt zu einem systematischen Tötungsprogramm.
Bald gingen im ganzen "Reich" geschaffene Tarnorganisationen für Verwaltung, Transportwesen, Personalwesen und Kostenregulierung an ihr Werk. Das Melde- und Erfassungssystem für alle Anstalten firmierte als "planwirtschaftliche Erfassung". Rund 40 Gutachter bearbeiteten die Meldebögen und urteilten am grünen Tisch über Deportation und Tötung. Merkblätter legten die Kriterien fest. Unter anderen wurden Patienten mit "Schizophrenie" selektiert, soweit sie nicht oder nur mit einfachsten Arbeiten beschäftigt werden konnten. Ausnahmslos zu melden waren Patienten, welche schon länger als fünf Jahre untergebracht waren, sogenannte "kriminelle Geisteskranke" sowie Nicht-Deutsche.
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Zur Verschleierung führten "Verlegungen" zunächst in andere Anstalten. Die Deportationen führten anschließend in eine der sechs zentralen Tötungsanstalten. Dort wurden die Opfer in Gaskammern geführt, wie sie bald darauf in Auschwitz und anderen Holocaust-Orten in Betrieb genommen wurden. Hinterbliebene wurden mit fingierten Todesurkunden getäuscht.
Die Krankenmorde der Aktion T4 forderten vom Januar 1940 bis zum Dezember 1944 über 70.000 Opfer. Im Juli wurde öffentlicher Protest durch hohe kirchliche Würdenträger laut. Nach außen hin beendete Hitler die Aktion im August 1941. Faktisch gingen die Tötungen weiter. Sie wurden ab 1943 als "Aktion Brandt" weitergeführt, durch die Betten in den Anstalten freigeräumt werden sollten.
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Ein Sonderprogamm war die Ermordung der psychisch Kranken jüdischen Glaubens. Sie begann im September 1940. Die Anstalt in Wunstorf war direkt involviert (Finzen, 1984): Hier wurden Patientinnen und Patienten aus Norddeutschland und Westfalen zusammengezogen. Zwölf von ihnen waren am 21.9.1940 aus Göttingen verlegt worden, acht kamen aus Wunstorf. Am 27.9.1940 erfolgte der Abtransport von 158 Menschen zum Bahnhof Wunstorf. Sie waren auf dem Rücken mit beschrifteten Leukoplaststreifen markiert. Sie wurden in der Tötungsanstalt Brandenburg ermordet. Fingierte Todesurkunden kamen aus der "Irrenanstalt Cholm, Post Lublin" (vgl. Klee, 1986, S. 260).
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Die "planwirtschaftlichen Verlegungen" der Aktion T4 führten in Wunstorf vom 23.4.1941 bis zum 1.8.1941 zur Deportation von 212 Frauen und Männern in die Anstalten Idstein, Scheuern und Eichberg (Finzen, 1984). Die Ermordung in Hadamar ist für 105 Kranke nachgewiesen (Wittrock, 2005), viele waren zwischenzeitlich verstorben.
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Aus Göttingen wurden vom 11.3.1941 und 29.4.1941 insgesamt 211 Patientinnen und Patienten über Zwischenanstalten deportiert und anschließend in die Tötungsanstalten Hadamar bzw. Pirna-Sonnenstein gebracht. Einige waren zwischenzeitlich verstorben. Ein dritter Transport am 22.8.1941 erfasste 15 Patienten (vgl. Beyer, 2013).
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Die Provinzialregierung setzte ab März 1941 gegenüber der Berliner Zentrale durch, bestimmte Patienten vom Transport zurückzustellen, zum Beispiel Kriegsbeschädigte, psychisch Alterskranke, Transportunfähige. Ein selektives Kriterium für die übrigen war, ob jemand noch "ein guter Arbeiter" war. Manche konnten zu Angehörigen oder in Familienpflege entlassen werden, wenn dorthin Verbindungen bestanden. Aus Wunstorf wurden 28 Zurückstellungen gemeldet (Finzen, 1984).
Der Göttinger Direktor Prof. Dr. Gottfried Ewald, der zu Beginn der Aktion T4 in Berlin Protest gegen das Tötungsprogramm erhoben hatte, versuchte, möglichst viele vom Transport zurückstellen zu lassen. Einige wurden als "wertvolle Demonstrationsfälle" für den klinischen Unterricht deklariert. Etwa 140 von 375 konnten auf diesem Wege verschont werden (Beyer, 2013; Asklepios Fachklinikum Göttingen, 2020).
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Im August 1940 waren im Verwahrungshaus 72 Patienten eingeschlossen, zumeist "kriminelle Geisteskranke". Aus dem Rheinland waren 20 Patienten hierher verlegt worden. Über 50 Patienten des Verwahrungshauses waren von den Transporten im März und April 1941 erfasst. Einige waren zwischenzeitlich verstorben. Auf Druck der Berliner T4-Zentrale wurden die letzten 10 Patienten am 22.8.1941 deportiert. 1943 lebten noch 13 der Patienten des Verwahrungshauses (Beyer, 2013).
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Bis 1943 kamen aus der Berliner Zentrale im Zuge der Aktion Brandt Nachfragen nach Patienten, die nicht für die Aktion T4 gemeldet worden wären. In einem Bericht der Verwaltung tauchte auch Klingebiels Name auf.
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Die Wunstorfer Anstalt wurde 1941 geschlossen und dann als Provinzial-Jugendheim genutzt. Sie wurde 1945 als Heil- und Pflegeanstalt wieder in Betrieb genommen (Wittrock, 2005).
Die Göttinger Anstalt war während des Krieges in Betrieb. Im Verwahrungshaus richtete das Konzentrationslager Moringen, ein "Jugendschutzlager" 1941 eine Außenstelle ein, die nach 1945 als Jugendheim weiterbetrieben wurde.
Nachkriegszeit
Über die Psychiatrie der Nachkriegsjahre 1945 bis 1949 ist sehr wenig bekannt. Die Versorgungsbedingungen waren elend, es herrschte Mangel an allem. Die Belegung stieg schnell an. Das Göttinger Verwahrungshaus wurde beginnend mit dem September 1949 wieder belegt und 1952 dem Landeskrankenhaus zugeordnet (Koller und Hesse, 2013).
Nach Artikel 104 des Grundgesetzes vom 23.5.1949 ist eine Freiheitsentziehung durch einen Richter zu genehmigen. Das Land Niedersachsen setzte dies bereits am 23.5.1950 durch Landesgesetz um (Spengler und Reiter, 2013, S. 65). Das Landessozialamt und die Stadt Göttingen prüften um 1953 Langzeitunterbringungen, um zu klären, in welchen Fällen eine richterliche Genehmigung einzuholen war. Für das Verwahrungshaus war "Fehlanzeige" erstattet worden. So wurde auch Klingebiel von keinem Richter angehört.
In der Nachkriegspsychiatrie der 1950er und 1960er Jahre lebte die alte, auf Kontrolle gerichtete Anstalts-psychiatrie weiter, auch wegen personeller Kontinuitäten in der Leitung der Häuser, deren Belegung bald zunahm. Bis zur Entwicklung von Neuroleptika in den 1950er Jahren standen keine wirksamen Behandlungen von Pychosen zur Verfügung.
Die Versorgungssituation stellte sich im Licht der Psychiatrie-Enquète des Deutschen Bundestages im Jahr 1975 als mangelhaft dar. Ein Zwischenbericht der beauftragten Enquète-Kommission sprach 1973 von "elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen".
Die Enquète markiert den Beginn umfassender Psychiatrie-Reformen, die auch in den Niedersächsischen Landeskrankenhäusern Einzug hielten (Finzen, 2015).
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Erinnern
Von einer öffentlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen an psychisch Kranken konnte über Jahrzehnte nicht gesprochen werden. Der Nürnberger Ärzteprozess (Dezember 1946 bis Juli 1947) war detailliert auf die Aktion T4 eingegangen. Erst 13 Jahre später wurden die Zusammenhänge unter dem Titel "Medizin ohne Menschlichkeit" einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert (Mitscherlich und Mielke, 1960).
Die hier nur kurz skizzierten Programme der NS-Psychiatrie wurden in den 1980er Jahren systematisch dargestellt (Klee, 1984) und regional konkretisiert (vgl. Finzen (1984) zu Wunstorf, Sueße und Meyer (1988), Reiter (1997) zu Niedersachsen). An den früheren Tötungsanstalten wurden Gedenkstätten errichtet.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) bekannte sich 2010 zu ihrer Vergangenheit und stellte 2014 im Deutschen Bundestag die bis 2020 international beachtete Wanderausstellung "erfasst, verfolgt, vernichtet" vor (Schneider und Lutz, 2014). 2014 wurde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin ein Gedenkort eingeweiht.
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Eine Gedenkkultur entwickelte sich auch in Niedersachsen (Reiter, 2007): In Göttingen wurde eine Dauerausstellung etabliert (Koller, 2002). Wunstorf erhielt 2001 ein Mahnmal und beteiligte sich 2005 am Gedenken zu Beginn des Evangelischen Kirchentages in Hannover (Spengler u.a., 2005; Spengler und Kausch, 2017). 2004 nahm in Lüneburg die „Euthanasie“-Gedenkstätte ihre Arbeit mit dem Schwerpunkt der Kindermorde auf.
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Angesichts der massenhaften Verbrechen der NS-Psychiatrie an psychisch Kranken und Behinderten dürfen Erinnerungs- und Gedenkkultur nicht zur Routine werden. Wie für alle anderen Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft gilt: Die Geschichte der Opfer zu erzählen, ihren Namen zu nennen, heißt die Erinnerung lebendig zu halten und ihnen ihre Würde wiederzugeben. Klingebiels Schicksal kann ein Beitrag dazu sein.
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